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In der FAZ Sonderbeilage zum Innovationstag erschien am 5. Oktober 2020 ein Interview mit Gerald Hüther unter dem Titel „ Was macht Corona mit unserem Gehirn?“ Hüther ist Neurobiologe und arbeitet auf dem Gebiet der experimentellen Hirnforschung. Er äußert sich zu den Kernthesen seines aktuell erschienenen Buches, das er auch in der Absicht schrieb, mit dem Faktor Angst, der allem menschlichen Leben innewohnt, souverän leben zu können.

Angst ist überlebensnotwendig und genetisch angelegt. Im konkreten Fall aktiviert sie unser sogenannte Reptiliengehirn, das drei archaische Reaktionsmuster zur Auswahl hat: Flucht, Angriff, Schockstarre. In Sachen Corona sind Flucht und Angriff keine probaten Mittel. Und aus der Schockstarre, in der sich viele Menschen aktuell wohl befinden, möchte er Auswege aufzeigen.

Dazu gehört aus seiner Sicht zunächst die Erkenntnis:

„[Was] es nie geben wird: eine verlässliche Kontrolle über das Lebendige. Als Biologe weiß ich, dass die Viren nicht nur zu unserem Leben dazugehören, sondern dass wir ihnen auch viele Leistungen verdanken, die unsere Körperzellen nur deshalb zu vollbringen imstande sind, weil sie virale DNA- Bestandteile in ihr Genom eingebaut haben. Und natürlich weiß ich auch, dass das Leben endlich ist. Jeden Tag sterben in Deutschland etwa 2.500 Menschen. So viele waren es täglich auch schon vor der schrecklichen Corona-Pandemie.“

( FAZ, 5.10. 2020, S. B6)

In seinem Vorwort differenziert Hüther den Begriff Angst in Sachen Corona:

„Es war nicht das Virus, das diese Angst ausgelöst hat. Es war die Vorstellung einer durch dieses Virus ausgelösten lebensbedrohlichen Erkrankung. Die angesichts einer realen Gefahr erlebte Angst ist nicht das Gleiche wie die durch die Vorstellung einer existenziellen Bedrohung ausgelöste Angst.“

(a.a.O. , S.9)

Hüther weist darauf hin, dass alles Leben ständigen Aktualisierungen unterworfen ist. Das große Plus des menschlichen Gehirns ist seine lebenslange Formbarkeit. So hat ein auch in seinen Grundfesten erschüttertertes Lebewesen die immanente Kraft, seine zellulären und körperlichen Regelmechanismen anders und günstiger umzuorganisieren. (a.a.O., S. 30) Das bedeutet, dass man aus als Schieflagen wahrgenommenen Situationen wieder herausfinden kann.

Das Schlüsselwort für Hirnforscher ist Kohärenz, der Zustand, der optimalerweise angestrebt wird:

„Das ist immer dann der Fall, wenn ältere Bereiche reibungslos mit jüngeren, die rechte Hemisphäre mit der linken zusammenarbeiten, wenn das Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit bilden, Erwartungen mit den Realitäten übereinstimmen, wenn nichts stört und man sich eng mit anderen, mit der Natur oder gar dem ganzen Universum verbunden fühlt.“

(a.a.O. S.35)

Es ist sicher nicht übertrieben, festzustellen, dass sich das Gros der Bevölkerung derzeit in einem inkohärenten Zustand befindet. Möglicherweise bekannte und bewährte Angstbewältigungsreaktionen liegen so richtig nicht vor; Corona wird als pandemisches Neuland, eine epochale Bedrohungslage gesehen und medial unablässig als solche inszeniert.

Und jetzt schlägt die Stunde der Experten. In den Passagen des Buches, die sich mit dem politischen Handling der Krise und deren herausragenden Protagonisten beschäftigen, merkt man Hüthers eigene Befindlichkeiten deutlich: Manchmal ist aus seiner Sicht der Weg vom Experten zum Angstmacher nicht weit. Tatsächliche oder vermeintliche Informationsasymmetrie zwischen den Experten und den ängstlichen Laien birgt nach Hüther erhebliche Gefahren:

„Wesentlich subtiler gehen all jene Angstmacher vor, die nicht nur das Ausmaß der Bedrohlichkeit dessen verstärken, was in der Vorstellung der „Opfer“ von außen auf sie zukommt ( die Katastrophe, der Terroranschlag, die „Russen“, das „lebensgefährliche“ Virus ). Manche dieser Angstmacher versuchen stattdessen, die normalerweise in ihren „Opfern“ vorhandenen Fähigkeiten zur Abwehr einer Bedrohung zu schwächen. Je unsicherer diese sind und je inkompetenter sie sich fühlen, desto leichter lassen sie sich auch durch heraufbeschworene Schreckensszenarien in einen verängstigten Zustand eigener Hilflosigkeit versetzen.“

(a.a.O., S. 78)

Wie kommt man da gar nicht erst hin oder aber wieder heraus?

Mit der grundsätzlichen Annahme eines lebensbestimmenden Dilemmas:

Wir können nicht leben, solange wir Angst haben, aber wir können auch nicht leben, ohne immer wieder Angst zu haben.

Hüther appelliert dringend, sich der eigentlich jedem zur Verfügung stehenden eigenen Vertrauensressourcen zu vergegenwärtigen.

Sein Bild dafür ist der dreibeinige Hocker: das erste Bein ist das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen, das zweite das Vertrauen in das unterstützende soziale Umfeld, das dritte die Vorstellung oder auch der Glaube, dass alles wieder gut wird.

Hüther ist davon überzeugt, dass man durch die Rückbesinnung auf diese drei Vertrauensressourcen allen Angstmachern das Geschäft vermiesen kann.

An dieser Stelle hätte man dem Buch etwas mehr Ausführlichkeit und Tiefenbohrung gewünscht. Gerade weil es aktuell so schwer ist, auf diesem Pfad der Autonomie und Selbstbestimmung zu bleiben oder zu kommen.

Wer in der konkreten Bewältigung der durchaus komplexen Herausforderungen aktuell noch Unterstützung sucht, ist natürlich bei einem guten Coach immer bestens aufgehoben.

Aber vielleicht gelingt der erste Einstieg bereits durch die Besinnung auf den Untertitel des Buches:

Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen.

Wege aus der Angst

Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen

Gerald Hüther, Göttingen 2020, Vandenhoeck & Ruprecht